Kathrin Klette

German journalist, living in the land of cheese and chocolate.

  • Die deutsche Wirtschaft brummt, aber Schwerbehinderte haben davon wenig. Sie sind häufig krank und irgendwie kompliziert – das denken zumindest viele Arbeitgeber. Dabei stimmt das alles gar nicht. [Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 01. Januar 2013, Link]

  • Sie werden bis zu 150 Kilogramm schwer und mögen Eicheln und Bucheckern: Wildschweine vermehren sich derzeit in Hessen rasant. Für die Bauern ist das ein Problem. [Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. November 2012, Link]

  • Welche Kurse muss ich belegen, wo kann ich waschen und wann ist die nächste Party? Ein Studium zu beginnen, stellt das ganze Leben auf den Kopf. Wir waren in den ersten Wochen eines Erstsemesters dabei. [Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. Oktober 2012, Link]

  • Frauen in Käfigen, dreckig-soulige Musik, aber immer diese Blicke! In der „Nacht der Clubs“ konnten Partylöwen einen Streifzug durch die Frankfurter Discoszene unternehmen. [Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 21. Oktober 2012, Link]

  • In Griechenland ist fast jeder vierte Jugendliche ohne Arbeit. Einige von ihnen versuchen ihr Glück in Frankfurt, doch ohne Sprachkenntnisse ist es für sie auch hier schwer. [Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. Oktober 2012, Link]

  • Spaziergänger gegen Radler, Mountainbiker gegen die Natur: Der Wald ist geliebt und umkämpft. Das neue hessische Waldgesetz soll nun regeln, wie sich Naturfreunde dort verhalten dürfen. [Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 29. September 2012, Link]

  • Silke ist eine intelligente, moderne Frau und die Geliebte eines verheirateten Mannes. Jahrelang wartet sie vergeblich darauf, dass er seine Frau für sie verlässt. Warum verschwendet Silke ihr Leben? Nahaufnahme eines weiblichen Phänomens. [© DIE ZEIT vom 19. Juli 2012, Link] Jahrelang hat Silke auf Christoph gesetzt. Sie war seine Geliebte, dann hat sie bei ihm gewohnt. Und jetzt ist alles, was ihr von ihm bleibt: das Fotoalbum vom letzten gemeinsamen Italien-Urlaub, ein paar Geschenke und eine braune Wolldecke. Vor ein paar Wochen ist sie aus seinem Haus, in dem sie drei Jahre gemeinsam verbracht hatten, ausgezogen. Sie hat nur ihre eigenen Möbel mitgenommen: CD-Regal, Beistelltisch, Stehlampe. Dazu ihre Kleidung, den Laptop, ein paar Bücher und ihre Thermomix-Küchenmaschine. Die Sachen hat sie in ihren roten Škoda gestopft und ist ein paar Dörfer weiter gefahren, zu ihrer neuen Adresse. Ihr Auto war voll bis unters Dach, ihr Herz war leer. So ist es eben, wenn nach zehn Jahren plötzlich alles aus ist. Sieben Jahre lang war Silke, die heute 34 ist, Christophs Geliebte, drei Jahre seine offizielle Freundin. Sie hing in der Warteschleife, allzeit bereit. Sie wurde hingehalten, vertröstet, verleugnet. Und sie hat mitgespielt. Bereitwillig hat sie die Rolle der Frau übernommen, die es nicht geben durfte. Wir befinden uns in einem Dorf auf dem flachen Land, irgendwo in der deutschen Einöde. Silke wohnt auch seit der Trennung immer noch in Christophs Dunstkreis. Nur zehn Kilometer von ihm entfernt. Kurz vor dem Ortsausgang, wo die Landstraße in einen Tannenwald führt, biegt man auf eine Zufahrt. Hier ist Silkes neue Bleibe: eine sanierte ehemalige Kaserne aus rotem Klinker. Im Erdgeschoss: zwei Zimmer, Küche, Bad, der Boden aus Laminat. Das braune Sofa, das Regal mit den Büchern (Die perfekte Liebhaberin; Männer sind anders, Frauen auch) und den flachen Fernsehtisch hat Silke aus ihrer früheren Wohnung geholt, die sie seit Jahren untervermietet hat. Das Bett hat sie im Internet ersteigert – ein weißes Doppelbett, in dem sie allein schläft. Auf der Couch im Wohnzimmer liegt zusammengefaltet die Wolldecke. Christoph hat ihr darin den gemeinsamen Kater überreicht, den sie unbedingt behalten wollte. Sie nennt den Kater ihren »Kinderersatz«, im Spaß natürlich – aber irgendwie auch ein bisschen im Ernst, denn auch auf Kinder, die sie sich so sehr wünschte, hat sie immer vergeblich gewartet. Am schlimmsten, sagt Silke, sei jetzt die Einsamkeit, wenn abends niemand zu Hause sei, das Brummen des Kühlschranks in der Stille. Diese Wohnung ist kein richtiges Zuhause, aber zu Hause war sie auch bei Christoph nicht. Vor langer Zeit hatte Christoph sein Haus, weißer Klinker, braunes Satteldach, mit seiner Frau Ruth gebaut. Etwa dreihundert Menschen leben in Christophs Dorf, viele Häuser sind grau und verfallen. »Da soll er erst mal jemanden finden, der das macht, von der Großstadt hierher ziehen, ganz ohne Freunde«, sagt Silke. Vor dem Haus eine Garage und ein geharktes Beet mit Sträuchern und breit grinsendem Keramikfrosch. Hinter dem Haus, im Garten: Pool, Grill, Tischtennisplatte. Als Ruth 2004 aus- und Silke 2009 einzog, hätten die Nachbarn sagen können, die Geliebte habe sich ins gemachte Nest gesetzt. Silke dagegen sagt, sie habe sich dort immer nur geduldet gefühlt. Gemeinsame Möbel hat sie mit Christoph nie gekauft. Auf dem Klingelschild stand nicht einmal ihr Name. Silke hat viel hingenommen und viele Tränen verbissen für diese Beziehung. Und vor allem hat sie gewartet. Aber es wäre unzutreffend, sie für ein geducktes Mäuschen zu halten. Silke sieht gut aus und wusste sich schon früh zu helfen: Mit 16 Jahren flog sie für ein Highschool-Jahr nach Chicago, richtete ihre erste eigene Wohnung allein ein. Heute arbeitet sie als Assistentin der Geschäftsführung in einem mittelständischen Unternehmen. Dort ist sie auch für Personalangelegenheiten zuständig, nicht offiziell, aber doch so anerkannt, dass die Kollegen oft davon ausgehen, dass sie die Entscheidungen trifft. Gerade macht sie ein Fernstudium in Betriebswirtschaftslehre – die jüngste Klausur hat sie mit der Note 1,0 bestanden. Sie verdient so viel, dass sie auf einen Mann nicht angewiesen wäre. Silke hat noch viel vor in ihrem Beruf, deshalb will sie ihren wirklichen Namen, die genauen Orte und identifizierbare Details nicht veröffentlicht sehen. Christoph wollte sich gegenüber der ZEIT zum Thema Silke nicht äußern. Silke sagt, sie habe sich sofort in Christoph verliebt: in seine blauen Augen, seine zupackende, gewinnende Art, seinen Charme, seinen Duft. Nach jedem ihrer heimlichen Treffen und auch später noch strubbelte sie durch seine raspelkurzen, immer weißer werdenden Haare, damit sein Parfum an ihren Händen haften bliebe. Im September 1997 war er in ihren Tischtennisverein gekommen. Da war sie 19 Jahre alt. Damals verkörperte Christoph mit seinen 33 Jahren für sie Lebenserfahrung und Weltgewandtheit. Silkes Fotos zeigen ihn in Skischuhen und im Fleecepulli, Christoph mit Bierflasche vor sich auf dem Tisch und Kumpel im Arm. Er ist ein Macher, ein Kerl. Kann Rasenmäher reparieren, Laminat verlegen, schmeißt die Stimmung auf jeder Party. Später, so erzählt sie, habe sie sich oft gefragt, womit sie es verdient habe, dass ausgerechnet ein so »toller Mensch« wie er etwas mit ihr habe angefangen wollen. Er war der erste Mann, in den sie richtig verschossen war. Dass er verheiratet war und mit der gleichaltrigen Ruth einen Sohn im Teenageralter hatte, erfuhr Silke erst, nachdem sie ihr Herz verloren hatte, durch einen Nachbarn. Da war es zu spät. Im Januar 1998 die erste gemeinsame Nacht. Sie gingen ins Kino: Titanic. Später, im Hotel, bestellte Christoph eine Flasche Champagner. Er machte ihr Komplimente, hörte ihr zu, war aufmerksam. »Nach dieser Nacht dachte ich: Jetzt gehört er mir«, sagt Silke. Bald gestand Christoph, er werde sich niemals von Ruth trennen. Doch Silke entgegnete: »Das glaube ich dir nicht.« Damals fand sie die eigene Einstellung romantisch. Später, mit Mitte zwanzig, dachte sie: Es ist Schicksal, eine normale Beziehung ist eben nicht für mich vorgesehen. Heute findet sie sich naiv. Nur jede zehnte Geliebte gewinnt – und der Mann verlässt seine Ehefrau In den seltensten Fällen haben es Frauen darauf angelegt, die Geliebte zu sein. Meist ist es irgendwie nach und nach dazu gekommen. Zu Beginn, hat Gerti Senger, eine österreichische Paarpsychologin und Autorin des Sachbuchs Schattenliebe, festgestellt, ist es ein prickelndes, verbotenes Fest, ein Rausch der Gefühle: »eine Perlenkette aus Sternstunden«. Es ist die Zeit, in der noch keiner nach der Zukunft fragt und ein einstündiges Treffen schon reines Glück bedeutet. Aber irgendwann steigen die Ansprüche, und die Geliebte sehnt sich nach allem, was zu einer normalen Beziehung gehört: sich zeigen und Hand in Hand spazieren gehen, keine verdrucksten Treffen in der Kneipe im nächsten Ort, in dem niemand einen kennt. Die Geliebte weiß aber auch: Wenn sie mehr will, muss sie das bisherige Leben der Ehefrau und das der Kinder zerstören. Dieser Zwiespalt kann einen Menschen in erhebliche Bedrängnis bringen; Senger nennt es einen »emotionalen Ausnahmezustand«. So beginnt das große Warten auf den geeigneten Moment und damit die Zeit, in der Liebe vor allem Verzicht bedeutet. Natürlich ist es nicht unmöglich, dass ein Mann seine Frau für die Geliebte verlässt. Es ist bloß ziemlich unwahrscheinlich. Im Jahr 2008 hat die Gesellschaft für erfahrungswissenschaftliche Sozialforschung eine Statistik über Geliebte vorgelegt. Demnach verlässt nur jeder zehnte Ehemann seine Frau für die Affäre. Das muss nicht unbedingt für die Ehe sprechen. Es sagt bloß viel über den Stellenwert einer Geliebten aus. »Die Geliebte verliert immer«, schreibt Roman Maria Koidl in seinem Bestseller Scheißkerle: »Wenn sich Ihr neuer Flirt oder sogar verheirateter Liebhaber nicht innerhalb weniger Wochen eindeutig zu Ihnen bekennt, ist er Ihrer nicht wert. Schluss – und zwar sofort!« Die Gattin hat einen entscheidenden Vorteil: Sie ist schon länger da – und die Geliebte muss erst einmal besser sein als sie. Die Ehepartner verbinden viele schöne Erinnerungen, möglicherweise Kinder und gemeinsames Eigentum. Der Schauspieler Fritz Wepper und der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer sind zwei prominente Beispiele aus jüngerer Vergangenheit, die nach ihren Affären kleinlaut nach Hause zurückkehrten. Nur für wenige Frauen wie die Bertelsmann-Chefin Liz Mohn und Camilla Parker-Bowles, die Dauergeliebte von Prinz Charles, war das Leben als Zweitfrau die Durchgangsstation auf dem dornenreichen Weg zur Gattin. Nur die wenigsten Geliebten, sagt Gerti Senger, seien mit ihrem Status als zweite Geige zufrieden. Die meisten wünschen sich eine verlässliche Zweisamkeit: »Wer teilt schon gerne seinen Mann?« Zweitpartner, die sich verstecken, sind fast immer Frauen. In den Internetforen, in denen Geliebte sich austauschen und Hilfe suchen, ist die überwiegende Mehrheit der Diskussionsteilnehmer weiblich. Männer, so hat es Gerti Senger beobachtet, sind nur selten bereit, als aussichtslos Liebende eine Beziehung im Abseits zu führen. Vor allem nicht, wenn diese Beziehung asymmetrisch, also die Frau verheiratet und der Mann ledig ist: »Die meisten Männer sitzen vielleicht drei Wochen zu Hause und warten, dann reicht es ihnen.« Es ist wohl das ihnen eigene Selbstwertgefühl, das Männer daran hindert, sich über einen längeren Zeitraum als zweite Besetzung zu etablieren. Frauen dagegen, das muss leider immer noch so gesagt werden, sind weitaus häufiger bereit, sich aufzuopfern. Frauen pflegen den kranken Vater, Frauen machen die Hausarbeit, Frauen stehen nachts auf, wenn das Baby schreit. »Frauen«, sagt Gerti Senger, »erledigen noch immer den Großteil der nicht geachteten und unbezahlten Arbeit.« Und sie sind es auch fast immer, die in die Rolle des Nebenpartners rutschen, für den es heißt: hoffen, warten, runterschlucken. Im 21. Jahrhundert leben Tausende von Geliebten das weibliche Rollenmuster in seiner traditionellsten Form aus. Daran haben auch fünfzig Jahre Emanzipation nichts geändert. Warum tun sie sich das an? In Internetforen kann man auch erkennen, dass heimliche Verhältnisse von mehreren Jahren keine Seltenheit sind. Unglücklich verliebte Frauen berichten, wie erleichtert sie waren, als der Mann endlich eine E-Mail beantwortet hatte. Sie schreiben über erkämpfte Kurzurlaube oder beklagen den x-ten erfolglosen Versuch, die Beziehung zu beenden. Damals, mit Mitte zwanzig, las auch Silke solche Berichte. Einmal entspann sich ein Dialog mit mehreren Teilnehmern, als eine Frau mit dem Spitznamen »reality« Hilfe suchte. Sie hatte gerade eine Affäre mit einem verheirateten Mann begonnen, Silke warnte die Leidensgenossin, indem sie ihre eigene Geschichte erzählte. Sie schrieb damals: »Ich bin in diese Beziehung reingewachsen und komme nicht mehr raus. Er ist zu meinem Lebensinhalt geworden, obwohl ich mein Leben nicht als leer bezeichnen kann. Ich habe einen Job, der mich ausfüllt, habe mein Hobby und Freunde. Aber all diese Sachen machen mir nur so lange Spaß, solange es mit IHM gerade gut läuft. Ich verliere sämtliche Motivation und Lebensfreude, wenn wieder ein Treffen nicht klappt, wir uns streiten oder ich mitbekomme, was er mit IHR gerade unternommen hat etc. (…) bitte bitte lass ihn laufen! Tu es für dich!« »reality« antwortete: »du sagst ich soll ihn laufenlassen, hättest du es gekonnt? auch wenn dir andere es geraten hätten, hättest du ihn loslassen können? ich muss ganz ehrlich sein. ich will es nicht.« Silke darauf: »Das Dumme an unserer Situation ist, dass wir die Hoffnung einfach nicht begraben können, dass er sich irgendwann für uns entscheidet. Man hofft immer, eine der 10 % zu sein, die ihren verheirateten Freund letztendlich für sich gewinnen.« Was aus »reality« geworden ist, hat Silke nie erfahren. Als die Beziehung zu Christoph begann, ging Silke noch zur Berufsschule. In jeder Pause telefonierte sie mit ihm, und auch sonst bei jeder Gelegenheit. Endlos waren die Gespräche, eine halbe Stunde, eine Dreiviertelstunde. Meist ging es darum, dass Christoph ein Treffen absagte, weil wieder irgendetwas mit seiner Frau war. Weil Silkes Nummer nicht auf Christophs Rechnung auftauchen durfte, wählte er sie nur kurz an und ließ ihr Handy klingeln. Sie rief ihn prompt zurück – und bezahlte alle Gespräche. Die Prepaidkarten, die Silke verbraucht hat, haben sich mit der Zeit in einer Holzkiste angesammelt. Vor ein paar Jahren rechnete sie einmal den gemeinsamen Wert aller Karten aus: Es waren 2500 Euro. Die Beziehung zu Christoph war auch im wörtlichen Sinne auf Silkes Kosten gegangen. Unter der Woche zehrte sie von den Telefonaten und SMS. Sie sprachen jeden Morgen miteinander, wenn Christoph im Auto zur Arbeit fuhr. Wenn er sich mal nicht zwischen sieben und halb acht meldete, sei sie fast wahnsinnig geworden, erinnert sich Silke. Abends bewachte sie manchmal lieber das Telefon, als mit Freunden auszugehen. Die, sagt Silke, hätten ihre Klagen ohnehin nicht mehr hören können. Geliebte, so stellt Gerti Senger fest, bugsieren sich oft in die selbst verschuldete Isolation. Weil sie bei Freunden und Familie meist kein Verständnis für ihr Leben und Leiden finden, ziehen sie sich zurück. Auch Silke wollte die Warnungen nicht hören. Ihre Mutter nahm sie zwar manchmal beiseite, wenn Christoph sich abfällig über Silke äußerte, und deren jüngere Schwester Daniela sagt, sie habe Silke, wenn die mal wieder am Boden lag, in stundenlangen Telefonaten beschworen, zu erkennen, dass Christoph schlecht für sie sei. Daniela fand es merkwürdig, dass es keinerlei liebevolle Geste zwischen den beiden gab, dass Christoph Silke nicht einmal in den Arm nahm oder ihre Hand drückte. Eher, so schien es ihr, wirkten sie wie gute Bekannte. Vier oder fünf Mal hatte Christoph genug von Silke, jedes Mal hoffte Daniela, dies wäre jetzt das letzte Mal. Dann kam Silke mit den Plänen zum Umzug in Christophs Haus auf dem Land an: »Es war, als ob sie sich aufgegeben hätte«, sagt Daniela. Aber was hätten sie und die Mutter schon tun können? Wenn Silke die Kritik zu heftig wurde, zog sie sich zurück – und sie ganz zu verlieren, wollten beide nicht riskieren. Zieht sich die Geliebte von allen zurück, beginnt oft ein Teufelskreis, dann ist der heimliche Partner die einzig verbliebene Quelle für Bestätigung, wodurch seine Position noch mächtiger wird. Meist, sagt Gerti Senger, fingen die Frauen dann an, ihren Liebhaber zu idealisieren, was sie noch stärker an ihn fessle. Doch je abhängiger die Geliebte wird, desto unsicherer wird sie auch. Und je unsicherer sie ist, desto mehr wächst die Abhängigkeit. An den Wochenenden, wenn Christoph bei Frau und Sohn war, hatte Silke Kontaktverbot. Keine Anrufe, keine SMS. Irgendwann schaltete Christoph sein Handy ganz ab. Weil der sehnsuchtsvollen Silke die Wochenenden aber zu lang wurden und Ruth das ausgeschaltete Handy misstrauisch stimmte, kaufte Silke für Christoph ein Zweithandy, das er in sein Auto legte. Wenn er schon nicht für sie da war, konnte sie ihm so immerhin schreiben. Zehn SMS am Tag werden es wohl gewesen sein. Nicht allein zu sein, zu wissen, dass da wenigstens als Adressat ihrer Gedanken jemand ist – Silke gab sich damit zufrieden, auch wenn sie nur dann mit einer Antwort rechnen konnte, wenn Christoph sich mal von zu Hause losriss und in den Baumarkt fuhr. Über die Weihnachtstage war sie froh, wenn er überhaupt schrieb. Fuhr er mit Frau und Sohn in den Urlaub, kam bestenfalls eine SMS in zwei Wochen.850 Kilometer rast sie über die Autobahn – nur um ihn kurz zu sehen Sie steckte ihm Zettel mit Gedichten zu, kleine Briefe. Einmal ließ sie sich wie seine Frau im Nagelstudio French Nails aufkleben, weil sie dachte, Christoph gefalle das. Für 200 Euro kaufte sie einen alten Arztkoffer, weil er »Antikes« gut fand. Die erotischen Fotos, die die 24-jährige Silke für 600 Euro von sich anfertigen ließ, gab er ihr wieder zurück. Er konnte sie nicht mit nach Hause nehmen. Dreimal in der Woche trafen sie einander. Ort und Zeit der Treffen bestimmte immer Christoph, sie waren wohlorganisiert zwischen seiner Arbeit im Außendienst, dem Sport und der Familie. Dienstag- und freitagnachmittags fuhr er vor dem Tischtennis immer früher zu Hause los. So konnten sie noch in Silkes Zweizimmerwohnung zu Abend essen, Salat mit frisch gepresstem Orangensaft. Mittwochs fuhren Silke und Christoph für eine Stunde in den Wald. Mit seiner Frau, sagte er ihr damals, laufe in dieser Hinsicht schon lange nichts mehr. Silke lebte auf diese drei Tage hin. Mit einem Abdeckstift kaschierte sie kleine Pickel, sie zog sich ein schönes Oberteil an, eine dunkle Hose, keine Jeans. Nie trug sie Minirock oder Stiefel. Sie wollte nicht billig wirken. Während der gemeinsamen Stunden telefonierte Christoph nie mit seiner Frau. Zu groß war das Risiko, sich durch den möglicherweise veränderten Klang der Stimme zu verraten. Auch wichtig: die Haarkontrolle nach jedem Treffen. Keines von Silkes langen Haaren durfte auf Christophs Pullover zu sehen sein. Manchmal planten sie heimliche Treffen in Hotels, wenn Christoph auf Dienstreise war. Hunderte Kilometer von zu Hause entfernt. Dann fuhr Silke ihm hinterher. Weil er am Nachmittag noch seine Kollegen traf, legte er den Zimmerschlüssel auf den Reifen seines Firmenwagens, sodass Silke, wenn sie am Abend ankam, schon aufs Zimmer gehen konnte. Morgens, bevor die anderen zum Frühstück gingen, schlich sie wieder davon. Keiner seiner Kollegen durfte was merken. Silke sagt heute, sie habe diese Treffen trotzdem genossen, denn dann hatte sie ihn eine Nacht ganz allein für sich. »Damals habe ich zu 97 Prozent gelitten«, sagt sie, »aber die drei Prozent, die ich genossen habe, wogen alles wieder auf.« Was bei all dem Versteckspiel auf der Strecke blieb, war Silkes Beruf. Mit Anfang zwanzig, zum Ende ihrer Ausbildung hin, dachte Silke nicht an die Karriere. »Für mich war nur wichtig: Welchen Job kann ich machen, um Christoph weiter tagsüber treffen zu können?«, sagt sie. So ging sie wie er in den Außendienst, obwohl ihr die Arbeit überhaupt keine Freude machte. »Totaler Schwachsinn«, sagt sie heute. Zur Einarbeitung musste sie damals für drei Monate in eine andere Stadt ziehen, ans andere Ende der Republik. Jeden Freitag raste sie in ihrem Auto 850 Kilometer nach Hause, sieben, acht Stunden auf der Autobahn. Unter der Woche arbeitete sie vor und sammelte Überstunden an, damit sie am Freitag schon um elf Uhr das Büro würde verlassen können. So konnten sie sich wenigstens für eine Stunde vor dem Tischtennistraining sehen. Das war die Ausbeute des Wochenendes. Einmal, da war sie schon fast zu Hause angekommen, leuchtete eine SMS von Christoph auf: Kann leider nicht kommen. Sie hatte den ganzen Weg umsonst gemacht. Warum wird eine Frau zur Dauergeliebten? Ist es Masochismus? Selbsthass? Mangelnde Selbstachtung? Die Furcht, keinen anderen mehr zu finden? Ist es eine Mischung aus Erziehung, Erlebnissen, gesellschaftlichen Erwartungen und Zufällen? Oder ist es Ideologie? Meist gehe es darum, sagt der Paartherapeut Ragnar Beer, dass Menschen trotz aller Freiheit und Selbstentfaltung, die ihnen heute offenstünden, nichts so sehr wünschten wie eine feste, verlässliche Beziehung. Und manche Menschen sind offenbar bereit, mehr als das Erträgliche dafür zu tun. Bleibt die Frage, ob ihre enormen Investitionen sich irgendwann tatsächlich auszahlen oder ob sie nicht zuletzt auf den Kosten sitzen bleiben. Gerade die heutige Zeit mit ihren Begleiterscheinungen wie Mobilität, Individualisierung und Vereinzelung begünstigt das Entstehen solcher Abhängigkeitsverhältnisse. Die sozialen Beziehungen werden immer unzuverlässiger und bröckeln; Kinder, Eltern, Großeltern und Freunde leben über die ganze Welt verstreut. Zwischen Liebenden liegt manchmal der Atlantik oder ein ganzer Kontinent. Verbindliche Zusagen und Treueschwüre verlieren an Wert, jede dritte Ehe wird geschieden, die Zahl der Singlehaushalte steigt, die Zahl der Einsamen auch – Männer und Frauen suchen verzweifelt nach Zuwendung. Die gesellschaftlich aufgezwungenen Vorstellungen vom »richtigen Leben« und von der »richtigen Liebe« können sich in diesem Vakuum zu einer persönlichen Ideologie aufblähen. Die davon Besessenen klammern sich an ihre Träume wie Erich Honecker an die Idee vom Sozialismus, während das Leben unter ihnen zusammenbricht. Silke, die im Verborgenen interessant war, wird langweilig, als sie Alltag ist Ihre zunehmende finanzielle Unabhängigkeit erlaubt es den Frauen auf der Suche nach Liebe, durchaus einmal etwas zu riskieren. Romanfiguren wie Anna Karenina, Effi Briest und Madame Bovary illustrieren eindrucksvoll, wie es verheirateten Frauen erging, die sich im 19. Jahrhundert einen heimlichen Liebhaber gestatteten: Kam die Liaison heraus, war ihr Ruf ruiniert und die Existenz zerstört. Heute leiden die Frauen an ganz anderen Zwängen: Sie laufen im Hamsterrad ihrer eigenen Anspruchssysteme. Sie haben exakte Vorstellungen davon, wie Glück auszusehen hat, und laborieren an den Defiziten, die die Realität zwangsläufig mit sich bringt. Die ständige Beschäftigung mit dem Mangel an Glück verschließt ihnen schließlich den Blick auf die möglichen Freuden des Lebens. Heute haben die Menschen mehr Gelegenheiten denn je, einen möglichen Partner kennenzulernen, und alle nötigen elektronischen Geräte, um heimliche Treffen zu arrangieren: Sie wechseln häufiger die Arbeit und machen Geschäftsreisen in ferne Städte, sie haben mehrere Handys und E-Mail-Adressen, und wenn sie sich einsam fühlen, durchstöbern sie in Partnerbörsen ein unendliches Flirt-Angebot. Früher, als die Gemeinschaft und damit die soziale Kontrolle stärker waren, fielen Affären leichter auf. Heute kennt man oft nicht einmal den Nachbarn, geschweige denn die Personen, die bei ihm ein und aus gehen. So liebt jeder für sich allein. Aber grenzenlose Freiheit macht die Liebe eben auch immer prekär und den Liebenden besonders verletzlich und besonders bedürftig. Deshalb müsste es umso wichtiger sein, seine eigenen Grenzen zu kennen und zu achten – und diese auch gegenüber dem Partner durchzusetzen. Erwachsen und emanzipiert zu sein, sagt der Paartherapeut Beer, heißt eben auch, sich um das eigene Wohlergehen zu kümmern und sich einen Partner zu nehmen, der es gut mit einem meint und nicht bloß die eigenen Interessen im Blick hat. Dazu gehört auch, sich von Menschen zu trennen, die einem nicht guttun. Man kann Christoph sicher vorwerfen, dass er das mangelnde Wissen der viel jüngeren Silke um die eigenen Grenzen ausgenutzt hat. Aber Silke ihrerseits wurde zwar älter, doch nicht klüger. Sie wollte dem Idealbild entsprechen, von dem sie glaubte, Christoph mache es sich von Frauen. Und womöglich hat sie ihn gerade dadurch um die Chance gebracht, dazuzulernen: zu lernen, sie zu achten. Welcher Mensch bemüht sich schon um ein Glück, das sich ihm aufdrängt? Andererseits wurde Silke durch das chronische Verbiegen und Verbergen selbst immer bitterer und unzufriedener und fing an, Christoph auf die Nerven zu gehen. Sieben Jahre lang erlebte Silke ein Hin und Her aus Hingabe und Verweigerung. Doch 2004 kam der große Moment. Christophs Frau Ruth war endlich aus dem gemeinsamen Haus ausgezogen: Christoph hatte sie herausgeworfen, er hatte keine Lust mehr, mit ihr zusammenzuleben. Das gemeinsame Kind war groß, und Ruth orientierte sich um. Jetzt wollte Silke heraus aus dem Dunkel, jetzt wollte auch sie zu ihrem Recht kommen. Also rief sie Ruth an und bat die Überraschte um ein Treffen. Es war ein nüchternes Gespräch. Bei einem Glas Wasser saßen Christophs Frauen in Ruths neuer Wohnung einander gegenüber. Silke hatte einen Stapel Fotos von sich und Christoph mitgebracht, als Beweismittel sozusagen, sie wollte sichergehen, dass Ruth ihr die Geschichte von der langen Lovestory auch abnehmen würde. Bis heute glaubt Silke, dass Ruth bis dahin nichts von dem Verhältnis ahnte. Ruth habe damals recht gefasst reagiert, sagt Silke, doch später muss sie Christoph die Hölle heiß gemacht haben. Denn die ganze Sache ging nach hinten los. Christoph machte Silke aufgrund ihrer Offenbarung wütende Vorwürfe. Dann verließ er sie. In den nächsten Jahren hatte er eine andere Freundin. Silke sah sich in dieser Zeit auch nach anderen Männern um – und sicher, es gab welche. Sie traf sich mit zwei Internet-Bekanntschaften, doch als die sie wiedersehen wollten, zog sie sich zurück. Die Gefühle für Christoph waren stärker. Außerdem habe sie das schon wieder genervt, sagt Silke, diese Nähe. Als sich Christoph 2008 wieder per SMS meldete, wollte Silke ihn eigentlich zappeln lassen, aber dann fuhr sie doch noch am selben Abend zu ihm. »Er musste bloß mit dem Finger schnippen, ruck, zuck war ich da«, sagt sie. Und 2009 durfte Silke endlich zu Christoph ziehen. Ruth hatte damals den Kontakt zu ihm abgebrochen. »Da war erst mal Ruhe an der Front«, sagt Silke. Nun, da die Bahn frei war für sie, hätte alles gut werden können, doch nichts wurde gut. Im Gegenteil: Die Beziehung verschlechterte sich und blieb zunächst so heimlich, wie sie begonnen hatte. Da war die Angst, er könnte zu seiner Ehefrau zurückkehren, die Angst, er könnte eine neue Frau kennenlernen – die Angst hat Silke nie verlassen. Nie konnte sie sich sicher fühlen. Einmal, als sie Hand in Hand über ein Stadtfest liefen, schlug ihr Christoph vor, ihre Hand zu drücken, wann immer er eine hübsche Frau sehe. Er drückte ihre Hand an diesem Nachmittag sehr häufig. Silke sagt, ihre Beziehung sei an der unsichtbaren Konkurrenz gescheitert. Tatsächlich war auch Ruth irgendwie immer noch da – trotz Trennung und Auszug. Wenn Silke im Flur die Marmortreppe hinaufging, lief sie jedes Mal an Ruths hässlichen azurgrünen Gardinen vorbei. Silke wollte sie abnehmen, aber Christoph war dagegen. Er sah keinen Grund, die Dinge zu ändern. Bis heute ist er mit Ruth verheiratet, und geht es nach ihm, wird das auch so bleiben. Christoph und Ruth treffen sich alle zwei Wochen. Silke sagt, seiner Frau falle immer etwas ein, wozu sie seine Hilfe brauche: sogar beim Tanken und beim Geldabholen. Einmal in der Woche telefonieren er und Ruth miteinander, und es gab Zeiten, da sprachen sie jeden Tag. Christoph sagte dann zu Silke, sie solle mal still sein. Er ging in sein Arbeitszimmer im ersten Stock, Silke hockte unten in der Küche und lauschte. Er habe dann immer einen ganz weichen Ton in der Stimme gehabt, fast zärtlich habe er mit Ruth gesprochen, nur sie selbst, sagt Silke, sie habe diesen Ton in der letzten Zeit nicht mehr gehört. Silke, die im Verborgenen interessant war, wird langweilig und anstrengend, als sie Alltag ist: Christoph findet plötzlich, sie habe sich verändert. Sie sei abends oft müde, und sie bevormunde ihn. Auch Silke lernt Christophs weniger erfreuliche Seiten kennen. Während er in Gesellschaft den Sonnyboy gibt, ist er zu Hause in sich gekehrt und manchmal verletzend. Ein paar Kilogramm abzunehmen wäre nicht schlecht für sie, meint er zu Silke, dann würde er sie vielleicht heiraten. Auch im Bett geht es inzwischen eher beschwerlich zu. Ob sie nur zweite Wahl sei, fragt sie ihn. Nein, sagt er, »aber die einfachste« Damit zwei Menschen miteinander glücklich sein könnten, sagt Gerti Senger, brauche es mehr als ein paar aufregende Nächte. Soziale Übereinstimmung gehöre dazu, aber auch gemeinsame Werte und Ziele, eine gemeinsame Kraft. »Die Liebe«, sagt Senger, »ist das Brüchigste, was es gibt.« Es ist das Tragische an den Geschichten von Geliebten, dass sie ihre erträumte Beziehung nie richtig testen können. Wird das heimliche Verhältnis doch einmal offiziell, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Beziehung scheitert. »Wenn etwas so einen langen, zähen Vorlauf hat, ist es oft schon ausgelutscht, wenn es richtig beginnt«, sagt Senger. Auch die Geliebte und ihr Liebhaber haben dann schon eine Art Gewohnheitsbeziehung – und die Entschädigung, ein offizielles Paar zu werden, schmeckt schal. Doch Silke konkurrierte nicht nur mit Ruth. Im vergangenen Sommer, als sie an einem Wochenende mit ihren Eltern zur Kur fuhr, ging Christoph mit seinem jetzt fast dreißig Jahre alten Sohn auf eine Party. Nachts reagierte er nicht auf SMS, er hob auch das Telefon nicht ab. Später durchsuchte Silke die ausgegangenen Anrufe und Mitteilungen auf seinem Handy, das tat sie manchmal, wenn sie ein ungutes Gefühl hatte. Sie fand eine SMS, die er an Manu, eine 25-Jährige aus dem Dorf, geschrieben hatte: »Ich hätte noch so gerne mit Dir getanzt«, stand da. Silke fand, so einen Satz schreibe man nicht einfach irgendjemandem. Christoph fand, da sei doch nichts dabei. Das mit dem Tanzen habe zwischen ihm und Silke sowieso nie so richtig geklappt. Hätte Christoph sie wirklich betrogen, hätte es Silke möglicherweise nicht einmal gemerkt. Plötzlich galten die Heimlichkeiten, die Tricks – alles, was Silkes und Christophs Beziehung jahrelang am Leben gehalten hatte – ihr selbst. »Ich wusste ja, wie er tickt, man ändert sich doch letztlich nicht«, sagt sie. Jetzt wurde sie misstrauisch, wenn er am Wochenende mit dem Auto wegfuhr. Wollte er nur in Ruhe mit einer anderen telefonieren, wie er es früher mit ihr getan hatte? Sie tippte eine SMS: »Ich habe einfach Angst, dass Du jemand anderes hast. Sag mir doch einfach, dass es nicht so ist.« Für Silke hatte die Beziehung zu Christoph immer etwas mit Leistung zu tun. Mit Kampf und Anstrengung. »Zuerst war es aufregend und schön, es war ja auch etwas Besonderes«, sagt sie. Nun, mit 34 Jahren, konnte sie nicht mehr. »Entweder Heirat oder Kinder«, sagte sie irgendwann zu Christoph. Aber das war auch wieder nur eine leere Drohung. Christoph ist jetzt 49 Jahre alt, für ihn ist die Familienplanung abgeschlossen. Er entschied sich für gar nichts, aber Silke glaubte, wenn sie nur lange genug durchhielte und sich wirklich bemühte, wäre sie irgendwann am Ziel. Die Chancen, etwas richtig machen zu können – sie schwanden. Als Silke Christoph einmal fragte, was sie denn tun solle, damit er glücklich werde, antwortete er: »Du kapierst es ja sowieso nicht.« Und womöglich stimmt das sogar. Es scheint, als habe Silke sich zu diesem Zeitpunkt im Wartesaal der Liebe so eingerichtet gehabt, dass sie nicht merkte, dass der Zug, in dem Christoph saß, längst abgefahren war. Es ist vielleicht auch bequemer für eine Frau, in der Opferrolle zu verharren, als mit dem Mann Krieg anzufangen oder allein neu anzufangen. Auf ihrem iPhone hat Silke einen Film gespeichert: Christoph im T-Shirt auf dem Sofa, auf dem Bauch der gemeinsame Kater. Seine Hände kraulten durch das schwarze Fell, dazu seine gurrende Stimme. Und sie dachte: »Nun konkurriere ich schon mit einer Katze.« Einmal wollte sie ihm zeigen, dass es ihr wirklich ernst war, dass auch sie nicht alles mit sich machen lasse. Für eine Woche wollte sie ausziehen, bei Eltern und Freunden wohnen, aber schon nach drei Tagen kehrte sie zurück. Die Sticheleien und die ständige Unsicherheit taten Silke zwar weh. Aber viel schlimmer, so fand sie, war das Alleinsein. Im Supermarkt sah sie plötzlich nur Paare, die ihre Einkäufe erledigten und dann gemeinsam mit dem Auto davonfuhren. Und daneben sah sie sich, wie sie allein dastand und niemanden hatte, der zu ihr gehörte und zu dem sie gehörte. Silke wollte ein Zuhause, einen sicheren Platz in dieser Welt, endlich ankommen. Sie malte sich aus, wie es wäre, gar noch mit fünfzig ein Single zu sein, ohne Kinder, und weil diese Fantasie zu grauenhaft war, kroch sie zu Christoph zurück und versprach, fortan nicht mehr so viel zu verlangen. Manchmal erinnert sie sich an diesen Satz, den Christoph einmal zu ihr gesagt hat. Sie hatte ihn gefragt, warum er sich wieder bei ihr gemeldet habe, wenn er doch später so unzufrieden mit ihr war. Ob sie denn nur die zweite Wahl gewesen sei? »Nein«, sagte Christoph da, »aber die einfachste.« Vor etwa zwei Monaten hat er Schluss gemacht, ganz überraschend nach dem Tischtennis. Mittwochnachmittag waren beide im Streit auseinandergegangen. Wieder hatte Silke in seinem Handy herumgeschnüffelt, wieder fand sie eine SMS, die er an Manu geschrieben hatte: »Lasse mir jetzt auf der Terrasse die Sonne ins Gesicht scheinen.« Silke hatte Christoph gebeten, er solle versprechen, Manu nicht mehr zu schreiben. Er hatte geantwortet: »Lass mich einfach in Ruhe.« Am Abend war es aus. Zunächst hoffte Silke, er würde wieder zur Besinnung kommen. Am Freitag nach der Trennung schrieb sie ihm etwa zwanzig SMS. »Ich verliere so viel, meinen Freund, mein Zuhause. Und was verlierst Du?« Doch Christoph antwortete nicht einmal mehr. An einem der folgenden Wochenenden fuhr er auf eine Messe. Silke bot ihm an, für die Zeit wieder in sein Haus zu ziehen, schließlich müsse doch jemand den Kater füttern, der damals noch bei ihm lebte. Doch Christoph hatte schon seine Eltern gebeten. Sie würden die Katze hüten. Für ihn war alles geklärt.

  • EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE: Warum eine Inderin wegen einer Toilette ihre Ehe aufs Spiel setzte Anita Narre, 24 Jahre alt, frisch verheiratet, hatte nicht vor, eine Revolution zu starten. Sie plante auch nicht, zum Vorbild für andere Frauen zu werden. Anita Narre wollte einfach nur ein eigenes Klo. Ihre Geschichte beginnt in Chichouli, einer Kleinstadt im Zentrum Indiens. Hier lebte sie, zusammen mit ihren Eltern. Ihr Vater ist Lehrer, ihre Mutter Hausfrau. Die Familie schätzt Traditionen, die Eltern gaben ihrer Tochter den guten, alten indischen Namen Anita, die Gnadenvolle, sie sind neuen Ideen, neuen Moden gegenüber nicht sonderlich aufgeschlossen. Die Eltern suchten den Ehemann für ihre Tochter aus, ohne zu fragen, ob ihr der Mann gefällt. Die Eltern teilten ihrem Kind nur das Ergebnis mit, und Anita war eine gute Tochter, sie nahm die Entscheidung einfach hin, so erzählt sie es selbst. Die Wahl der Eltern fiel auf einen jungen Mann, er heißt Shivram, ist zwei Jahre jünger als Anita, und er würde demnächst als Grundschullehrer arbeiten, in seinem Dorf Jheetudhhana, nicht weit von Chichouli entfernt. Anita Narre traf ihren zukünftigen Ehemann nur ein einziges Mal vor der Hochzeit. Danach hatte sie das Gefühl, dass ihre Eltern eine gute Wahl getroffen hatten. Shivram, so schien es ihr, war ein ehrlicher, warmherziger Mann. Ihr neues Zuhause sah Anita erst nach der Hochzeit. Und was sie sah, ließ sie zweifeln, an der Urteilskraft ihrer Eltern und am Fortbestand ihrer Ehe. Bis zum Zeitpunkt ihres Umzugs hatte sie in einem richtigen Haus gelebt, mit Wänden aus Stein, mit einem ordentlichen Dach, mit Strom und mit einer Toilette. Das war nun nicht mehr so. Das Haus ihres Mannes war kein richtiges Haus, es war eher eine Hütte, es gab drei Zimmer, aber keinen Strom, und das Wasser holte man aus einem Brunnen, der ungefähr einen Kilometer weit entfernt war. Mit diesen Unannehmlichkeiten hätte sich Anita Narre zur Not noch arrangieren können. Was sie nicht ertrug, war die Abwesenheit einer Toilette. Es fehlte nicht nur ein Klo in der Nähe der Hütte. Es gab gar kein Klo im Dorf. Ein offenes Feld diente den Dorfbewohnern als Latrine, die eine Hälfte war für die Männer reserviert, die andere für die Frauen. Anita fragte ihren Mann, ob man den Zustand ändern könne. Seine Antwort war: Eine Toilette im Haus ist eklig, außerdem teuer. Anita Narre versuchte, eine gute Ehefrau zu sein. Sie riss sich zusammen. Am Abend, nachdem es dunkel geworden war, machte sie sich auf den Weg zum offenen Feld. Sie wollte dort von niemandem gesehen werden, nicht von Männern, nicht von Frauen. Sie lief auf Flip-Flops, gab acht, dass sie nicht auf Skorpione oder Schlangen trat. Am Morgen darauf, bevor die Sonne aufging, suchte sie das Feld zum zweiten Mal auf, und dabei beschloss sie, dass es auch das letzte Mal sein würde. So hatte sie sich ihr Leben nicht vorgestellt. Sie stellte ihrem Mann ein Ultimatum. Sie werde jetzt wieder zu ihren Eltern ziehen, sagte sie, und erst, wenn das Haus eine eigene Toilette habe, werde sie zurückkehren. Kein Klo, keine Ehe. Die Versuche des Ehemanns Shivram, sie umzustimmen, blieben ohne Ergebnis. Anita Narre ging, er begann, ein Klo zu planen. Er würde es nicht in der Hütte bauen, sondern in einem Verschlag, ein paar Meter entfernt. Es würde etwa 4000 Rupien kosten, was viel Geld ist, wenn man wie Shivram 2400 Rupien im Monat verdient. Um den Bau bezahlen zu können, wandte er sich an die Dorfverwaltung, die ihm einen Zuschuss über 2000 Rupien gewährte. Das Geld stammt aus einem Hygieneprogramm der indischen Regierung. Etwa eine Woche später war alles fertig, hinter dem Haus stand nun ein Ziegelhäuschen mit Metalltür und Toilettenschüssel im Boden. Anita kehrte zu ihrem Mann zurück. Das hätte, soweit es Shivram und Anita betrifft, das Ende der Geschichte sein können. Aber so war es nicht. Die anderen Frauen im Dorf fragten sich nun, warum sie sich weiterhin auf den Acker hocken sollten. Wieso hatten sie nicht auch ihre eigene Toilette? Überall im Dorf debattierten Ehefrauen nun mit ihren Ehemännern, und manche droh-ten, wie Anita gedroht hatte: kein Klo, keine Ehe. Heute, ein knappes Jahr später, gibt es rund hundert Toiletten im Dorf, und vergangene Woche wurde Anita Narre für ihre Hartnäckigkeit geehrt. Eine gemeinnützige Organisation hat ihr einen Preis verliehen und umgerechnet über 7000 Euro geschenkt. Anita und Shivram Narre wollen das Geld in ihr Zuhause investieren. Ein größeres Haus soll nun gebaut werden, mit einem eigenen Badezimmer. (© DER SPIEGEL, 13/2012)

  • John Carter Cash, 41, Musikproduzent, über das Vermächtnis seines Vaters

    SPIEGEL: Ihr Vater, der Country-Sänger Johnny Cash, hat mehr als 500 Songs geschrieben, seine Karriere dauerte ein halbes Jahrhundert. Er hat zeit seines Lebens Drogen genommen. Wie wächst man auf mit einem abhängigen Vater?

    Cash: Mit neun oder zehn habe ich mitbekommen, was los war, mein Vater nahm damals zu viele Schmerzmittel. Er war dann wie ein anderer Mensch, zerstreut, ohne Verständnis. Darunter hat auch meine Mutter gelitten. Es ist nie nur der Abhängige, der krank ist. Die ganze Familie leidet.

    SPIEGEL: Trotzdem ging Ihr Vater ständig auf Tour und nahm die Familie mit. War es unterwegs einfacher?

    Cash: Das war toll, ich habe viele Menschen getroffen, unglaubliche Orte gesehen. Als Junge wollte ich so werden wie er, die Leute unterhalten, auf der Bühne stehen. Aber das Leben in der Öffentlichkeit hat meinen Vater auch ein bisschen von mir weggezogen.

    SPIEGEL: Sie machten später Musik, wie Ihr Vater, nahmen schon als Jugendlicher Drogen, wie Ihr Vater. Mit 21 machten Sie mit ihm einen Entzug.

    Cash: Ich habe als Jugendlicher eine große Leere in mir gefühlt. Als wir den Entzug machten, schrieben wir uns viele Briefe, das hat uns sehr zusammengeschweißt.

    SPIEGEL: Haben Sie ihm verziehen?

    Cash: Es war oft schwierig mit ihm, aber da waren nicht nur dunkle Seiten. Ich habe ihn auch als einen lachenden, verständnisvollen Mann in Erinnerung. Wir waren fischen und wandern, er war sehr religiös und ein leidenschaftlicher Leser. Ich gehe mit meinen Kindern auch in die Kirche, wir beten und lesen viel, auch die Bibel.

    SPIEGEL: In Ihrem Buch über Ihren Vater finden sich viele private Briefe und Notizen.

    Cash: Als meine Eltern vor acht Jahren gestorben sind, musste ihr Haus verkauft werden. Auf dem Dachboden fanden wir Tonbandaufnahmen, Filmrollen, Medaillen. Und die Liebes-briefe, die mein Vater an meine Mutter geschrieben hat. In denen war unglaublich viel Herz.

    John Carter Cash: „Mein Vater Johnny Cash“. Knesebeck Verlag, München; 160 Seiten; 39,95 Euro.

    DER SPIEGEL, 09/2012]

  • EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE: Warum eine Französin 5200 unbezahlte Überstunden anhäufte Muriel Genda, zurzeit die berühmteste Ex-Angestellte von McDonald’s in Frankreich, sieht wieder besser aus. Nicht mehr so müde, nicht mehr so dünn, nicht mehr so verzweifelt. Sie sitzt in einem Café in Saint-Brieuc, einer kleinen Stadt in der Bretagne, und erzählt ihre Geschichte, die von einer unfreiwilligen Rebellion gegen die weltweit umsatzstärkste Fast-Food-Kette handelt. Muriel Gendas Geschichte beginnt vor 13 Jahren. Damals war sie 21 Jahre alt, eine Studentin der Lebensmitteltechnik, die sich am Wochenende bei McDonald’s etwas dazuverdiente. Buletten wenden, Pommes salzen, abkassieren, das war ihr Job, und sie machte ihn mit mäßiger Begeisterung, aber gut und gewissenhaft. Nach zwei Jahren bot ihr der Chef eine Vollzeitstelle an. Muriel Genda stand kurz vor dem Ende ihres Studiums und wog ihre Möglichkeiten ab. Weiterstudieren und auf eine besser bezahlte Arbeitsstelle hoffen oder bei McDonald’s anfangen und auf eine Karriere setzen. Muriel Genda entschied sich für die zweite Variante, und zunächst ging auch alles gut. Sie war zufrieden mit ihrer Arbeit, und ihr Chef war zufrieden mit ihr. Deshalb bot er ihr nach drei weiteren Jahren die Möglichkeit, Leiterin des McDonald’s-Restaurants im benachbarten Guingamp zu werden. Diesmal musste Genda nicht lange überlegen. Sie war nun Führungskraft, bestellte die Brötchen und das Fleisch selbst, führte Vorstellungsgespräche, lernte Mitarbeiter an. Sie besaß jetzt Verantwortung, viel mehr als zuvor, und sie wollte dieser Verantwortung gerecht werden, sie wollte gut sein in dem, was sie tat. Aber es gab wirklich viel zu tun. Waren mussten geordert, Schichtpläne erstellt werden, Ersatz musste herangeschafft werden für Mitarbeiter, die sich krankmeldeten, für solche, die kündigten. Und wenn es keinen Ersatz gab, sprang Muriel Genda selbst ein, briet das Fleisch, zapfte Softdrinks. Ihre Tage waren lang, sie begannen morgens um 9 Uhr und endeten oft erst gegen 23 Uhr. Sie arbeitete sechs Tage die Woche Vollzeit, nur die Sonntage waren frei, halbwegs. Dann stand sie erst am späten Nachmittag wieder in der Filiale. Den halben freien Tag opferte sie, als sie zusätzlich zu der Filiale in Guingamp noch eine zweite in Paimpol übernahm. Vier Tage in der Woche war sie dort, die übrigen drei in Guingamp. Später sprang sie auch noch in den Filialen in Plérin und Langueux ein. Während der gesamten Zeit blieb ihr Gehalt unverändert. 2200 Euro brutto. Fragt man Genda, warum sie sich das angetan hat, dann zögert sie erst, erzählt dann aber doch von ihrem Chef. Er scheint ein geübter Manipulator zu sein. Über die Jahre sei er ein guter Freund geworden, sagt Muriel Genda noch heute. Er kam zu ihrer Hochzeit, sie diskutierten und lachten. Nach der Schicht, wenn alle in eine Bar gingen, war er oft dabei. Er habe gewusst, wie er sie zum Lachen bringen, wie er ihr schmeicheln konnte, sagt Genda. Und er habe auch gewusst, wie er ihr ein schlechtes Gewissen machen, wie er sie antreiben konnte. An manchen Tagen sagte er, sie arbeite zu langsam, nicht effizient, sie sei eine Niete. An anderen versprach er ihr eine Prämie, zahlte die dann aber nicht, weil sie angeblich nachgelassen habe. Ihr Chef erinnerte Muriel Genda an ihren Vater, einen Architekten, einen Freiberufler, der auch viel forderte, von sich und von anderen. Auch deshalb ließ sie sich wohl so behandeln. Im Jahr 2008, sie hatte mittlerweile rund zehn Kilo abgenommen und lebte von Kaffee und Zigaretten, beschloss sie, sich ihr Leben zurückzuholen. Sie schrieb Bewerbungen, an Verwaltungen, an den Club Med. Sie hat sie nicht gezählt, aber es fühlte sich an, als wären es Hunderte gewesen. Nicht eine war erfolgreich. Im August 2009 folgte dann, fast erwartet, der Zusammenbruch. In ihrem Büro sackte Muriel Genda auf den weißen Fliesenboden, sie schlug die Hände über den Kopf, zog die Beine an und zitterte am ganzen Körper. Dieses Mal riss sie sich nicht wieder zusammen, dieses Mal ging sie zur Ärztin, die schrieb sie wegen eines Burnout krank. Wenig später klagte sie. Vor kurzem hat das Arbeitsgericht in Guingamp Gendas Chef verurteilt, er muss ihr etwa 250 000 Euro zahlen, für über 5200 Überstunden und entgangene Ruhetage. Er hat Berufung eingelegt, aber sollte er scheitern, wäre das wohl die höchste Gehaltsnachzahlung, die eine McDonald’s-Filiale in Frankreich jemals zahlen musste. Muriel Genda ist nun bekannt in Frankreich, Interviews gibt sie unter ihrem Mädchennamen, sie versucht, die Kontrolle über ihr neues Leben zu behalten. Heute arbeitet sie in einem Modegeschäft und leitet ein Team mit 15 Angestellten. Sie versucht, eine gute Chefin zu sein. Und halbwegs pünktlich nach Hause zu gehen. [© DER SPIEGEL, 08/2012]

Über

Kathrin Klette, Journalistin, Nordlicht. Studium der Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft und Geschichte in Berlin und München. Arbeit als freie Journalistin, längere Aufenthalte in London. Volontariat an der Evangelischen Journalistenschule in Berlin, mit Stationen u.a. bei der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, beim „Spiegel“ und beim ZDF (New York). Seit 2013 Redakteurin bei der „Neuen Zürcher Zeitung“. Autorin des Buches „Hoffen – eine Anleitung zur Zuversicht“, erschienen im Ch. Links Verlag.