EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE: Warum eine Inderin wegen einer Toilette ihre Ehe aufs Spiel setzte Anita Narre, 24 Jahre alt, frisch verheiratet, hatte nicht vor, eine Revolution zu starten. Sie plante auch nicht, zum Vorbild für andere Frauen zu werden. Anita Narre wollte einfach nur ein eigenes Klo. Ihre Geschichte beginnt in Chichouli, einer Kleinstadt im Zentrum Indiens. Hier lebte sie, zusammen mit ihren Eltern. Ihr Vater ist Lehrer, ihre Mutter Hausfrau. Die Familie schätzt Traditionen, die Eltern gaben ihrer Tochter den guten, alten indischen Namen Anita, die Gnadenvolle, sie sind neuen Ideen, neuen Moden gegenüber nicht sonderlich aufgeschlossen. Die Eltern suchten den Ehemann für ihre Tochter aus, ohne zu fragen, ob ihr der Mann gefällt. Die Eltern teilten ihrem Kind nur das Ergebnis mit, und Anita war eine gute Tochter, sie nahm die Entscheidung einfach hin, so erzählt sie es selbst. Die Wahl der Eltern fiel auf einen jungen Mann, er heißt Shivram, ist zwei Jahre jünger als Anita, und er würde demnächst als Grundschullehrer arbeiten, in seinem Dorf Jheetudhhana, nicht weit von Chichouli entfernt. Anita Narre traf ihren zukünftigen Ehemann nur ein einziges Mal vor der Hochzeit. Danach hatte sie das Gefühl, dass ihre Eltern eine gute Wahl getroffen hatten. Shivram, so schien es ihr, war ein ehrlicher, warmherziger Mann. Ihr neues Zuhause sah Anita erst nach der Hochzeit. Und was sie sah, ließ sie zweifeln, an der Urteilskraft ihrer Eltern und am Fortbestand ihrer Ehe. Bis zum Zeitpunkt ihres Umzugs hatte sie in einem richtigen Haus gelebt, mit Wänden aus Stein, mit einem ordentlichen Dach, mit Strom und mit einer Toilette. Das war nun nicht mehr so. Das Haus ihres Mannes war kein richtiges Haus, es war eher eine Hütte, es gab drei Zimmer, aber keinen Strom, und das Wasser holte man aus einem Brunnen, der ungefähr einen Kilometer weit entfernt war. Mit diesen Unannehmlichkeiten hätte sich Anita Narre zur Not noch arrangieren können. Was sie nicht ertrug, war die Abwesenheit einer Toilette. Es fehlte nicht nur ein Klo in der Nähe der Hütte. Es gab gar kein Klo im Dorf. Ein offenes Feld diente den Dorfbewohnern als Latrine, die eine Hälfte war für die Männer reserviert, die andere für die Frauen. Anita fragte ihren Mann, ob man den Zustand ändern könne. Seine Antwort war: Eine Toilette im Haus ist eklig, außerdem teuer. Anita Narre versuchte, eine gute Ehefrau zu sein. Sie riss sich zusammen. Am Abend, nachdem es dunkel geworden war, machte sie sich auf den Weg zum offenen Feld. Sie wollte dort von niemandem gesehen werden, nicht von Männern, nicht von Frauen. Sie lief auf Flip-Flops, gab acht, dass sie nicht auf Skorpione oder Schlangen trat. Am Morgen darauf, bevor die Sonne aufging, suchte sie das Feld zum zweiten Mal auf, und dabei beschloss sie, dass es auch das letzte Mal sein würde. So hatte sie sich ihr Leben nicht vorgestellt. Sie stellte ihrem Mann ein Ultimatum. Sie werde jetzt wieder zu ihren Eltern ziehen, sagte sie, und erst, wenn das Haus eine eigene Toilette habe, werde sie zurückkehren. Kein Klo, keine Ehe. Die Versuche des Ehemanns Shivram, sie umzustimmen, blieben ohne Ergebnis. Anita Narre ging, er begann, ein Klo zu planen. Er würde es nicht in der Hütte bauen, sondern in einem Verschlag, ein paar Meter entfernt. Es würde etwa 4000 Rupien kosten, was viel Geld ist, wenn man wie Shivram 2400 Rupien im Monat verdient. Um den Bau bezahlen zu können, wandte er sich an die Dorfverwaltung, die ihm einen Zuschuss über 2000 Rupien gewährte. Das Geld stammt aus einem Hygieneprogramm der indischen Regierung. Etwa eine Woche später war alles fertig, hinter dem Haus stand nun ein Ziegelhäuschen mit Metalltür und Toilettenschüssel im Boden. Anita kehrte zu ihrem Mann zurück. Das hätte, soweit es Shivram und Anita betrifft, das Ende der Geschichte sein können. Aber so war es nicht. Die anderen Frauen im Dorf fragten sich nun, warum sie sich weiterhin auf den Acker hocken sollten. Wieso hatten sie nicht auch ihre eigene Toilette? Überall im Dorf debattierten Ehefrauen nun mit ihren Ehemännern, und manche droh-ten, wie Anita gedroht hatte: kein Klo, keine Ehe. Heute, ein knappes Jahr später, gibt es rund hundert Toiletten im Dorf, und vergangene Woche wurde Anita Narre für ihre Hartnäckigkeit geehrt. Eine gemeinnützige Organisation hat ihr einen Preis verliehen und umgerechnet über 7000 Euro geschenkt. Anita und Shivram Narre wollen das Geld in ihr Zuhause investieren. Ein größeres Haus soll nun gebaut werden, mit einem eigenen Badezimmer. (© DER SPIEGEL, 13/2012)
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Eine saubere Sache
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„Da waren nicht nur dunkle Seiten“
John Carter Cash, 41, Musikproduzent, über das Vermächtnis seines Vaters
SPIEGEL: Ihr Vater, der Country-Sänger Johnny Cash, hat mehr als 500 Songs geschrieben, seine Karriere dauerte ein halbes Jahrhundert. Er hat zeit seines Lebens Drogen genommen. Wie wächst man auf mit einem abhängigen Vater?
Cash: Mit neun oder zehn habe ich mitbekommen, was los war, mein Vater nahm damals zu viele Schmerzmittel. Er war dann wie ein anderer Mensch, zerstreut, ohne Verständnis. Darunter hat auch meine Mutter gelitten. Es ist nie nur der Abhängige, der krank ist. Die ganze Familie leidet.
SPIEGEL: Trotzdem ging Ihr Vater ständig auf Tour und nahm die Familie mit. War es unterwegs einfacher?
Cash: Das war toll, ich habe viele Menschen getroffen, unglaubliche Orte gesehen. Als Junge wollte ich so werden wie er, die Leute unterhalten, auf der Bühne stehen. Aber das Leben in der Öffentlichkeit hat meinen Vater auch ein bisschen von mir weggezogen.
SPIEGEL: Sie machten später Musik, wie Ihr Vater, nahmen schon als Jugendlicher Drogen, wie Ihr Vater. Mit 21 machten Sie mit ihm einen Entzug.
Cash: Ich habe als Jugendlicher eine große Leere in mir gefühlt. Als wir den Entzug machten, schrieben wir uns viele Briefe, das hat uns sehr zusammengeschweißt.
SPIEGEL: Haben Sie ihm verziehen?
Cash: Es war oft schwierig mit ihm, aber da waren nicht nur dunkle Seiten. Ich habe ihn auch als einen lachenden, verständnisvollen Mann in Erinnerung. Wir waren fischen und wandern, er war sehr religiös und ein leidenschaftlicher Leser. Ich gehe mit meinen Kindern auch in die Kirche, wir beten und lesen viel, auch die Bibel.
SPIEGEL: In Ihrem Buch über Ihren Vater finden sich viele private Briefe und Notizen.
Cash: Als meine Eltern vor acht Jahren gestorben sind, musste ihr Haus verkauft werden. Auf dem Dachboden fanden wir Tonbandaufnahmen, Filmrollen, Medaillen. Und die Liebes-briefe, die mein Vater an meine Mutter geschrieben hat. In denen war unglaublich viel Herz.
John Carter Cash: „Mein Vater Johnny Cash“. Knesebeck Verlag, München; 160 Seiten; 39,95 Euro.
[© DER SPIEGEL, 09/2012]
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Mitarbeiterin des Monats
EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE: Warum eine Französin 5200 unbezahlte Überstunden anhäufte Muriel Genda, zurzeit die berühmteste Ex-Angestellte von McDonald’s in Frankreich, sieht wieder besser aus. Nicht mehr so müde, nicht mehr so dünn, nicht mehr so verzweifelt. Sie sitzt in einem Café in Saint-Brieuc, einer kleinen Stadt in der Bretagne, und erzählt ihre Geschichte, die von einer unfreiwilligen Rebellion gegen die weltweit umsatzstärkste Fast-Food-Kette handelt. Muriel Gendas Geschichte beginnt vor 13 Jahren. Damals war sie 21 Jahre alt, eine Studentin der Lebensmitteltechnik, die sich am Wochenende bei McDonald’s etwas dazuverdiente. Buletten wenden, Pommes salzen, abkassieren, das war ihr Job, und sie machte ihn mit mäßiger Begeisterung, aber gut und gewissenhaft. Nach zwei Jahren bot ihr der Chef eine Vollzeitstelle an. Muriel Genda stand kurz vor dem Ende ihres Studiums und wog ihre Möglichkeiten ab. Weiterstudieren und auf eine besser bezahlte Arbeitsstelle hoffen oder bei McDonald’s anfangen und auf eine Karriere setzen. Muriel Genda entschied sich für die zweite Variante, und zunächst ging auch alles gut. Sie war zufrieden mit ihrer Arbeit, und ihr Chef war zufrieden mit ihr. Deshalb bot er ihr nach drei weiteren Jahren die Möglichkeit, Leiterin des McDonald’s-Restaurants im benachbarten Guingamp zu werden. Diesmal musste Genda nicht lange überlegen. Sie war nun Führungskraft, bestellte die Brötchen und das Fleisch selbst, führte Vorstellungsgespräche, lernte Mitarbeiter an. Sie besaß jetzt Verantwortung, viel mehr als zuvor, und sie wollte dieser Verantwortung gerecht werden, sie wollte gut sein in dem, was sie tat. Aber es gab wirklich viel zu tun. Waren mussten geordert, Schichtpläne erstellt werden, Ersatz musste herangeschafft werden für Mitarbeiter, die sich krankmeldeten, für solche, die kündigten. Und wenn es keinen Ersatz gab, sprang Muriel Genda selbst ein, briet das Fleisch, zapfte Softdrinks. Ihre Tage waren lang, sie begannen morgens um 9 Uhr und endeten oft erst gegen 23 Uhr. Sie arbeitete sechs Tage die Woche Vollzeit, nur die Sonntage waren frei, halbwegs. Dann stand sie erst am späten Nachmittag wieder in der Filiale. Den halben freien Tag opferte sie, als sie zusätzlich zu der Filiale in Guingamp noch eine zweite in Paimpol übernahm. Vier Tage in der Woche war sie dort, die übrigen drei in Guingamp. Später sprang sie auch noch in den Filialen in Plérin und Langueux ein. Während der gesamten Zeit blieb ihr Gehalt unverändert. 2200 Euro brutto. Fragt man Genda, warum sie sich das angetan hat, dann zögert sie erst, erzählt dann aber doch von ihrem Chef. Er scheint ein geübter Manipulator zu sein. Über die Jahre sei er ein guter Freund geworden, sagt Muriel Genda noch heute. Er kam zu ihrer Hochzeit, sie diskutierten und lachten. Nach der Schicht, wenn alle in eine Bar gingen, war er oft dabei. Er habe gewusst, wie er sie zum Lachen bringen, wie er ihr schmeicheln konnte, sagt Genda. Und er habe auch gewusst, wie er ihr ein schlechtes Gewissen machen, wie er sie antreiben konnte. An manchen Tagen sagte er, sie arbeite zu langsam, nicht effizient, sie sei eine Niete. An anderen versprach er ihr eine Prämie, zahlte die dann aber nicht, weil sie angeblich nachgelassen habe. Ihr Chef erinnerte Muriel Genda an ihren Vater, einen Architekten, einen Freiberufler, der auch viel forderte, von sich und von anderen. Auch deshalb ließ sie sich wohl so behandeln. Im Jahr 2008, sie hatte mittlerweile rund zehn Kilo abgenommen und lebte von Kaffee und Zigaretten, beschloss sie, sich ihr Leben zurückzuholen. Sie schrieb Bewerbungen, an Verwaltungen, an den Club Med. Sie hat sie nicht gezählt, aber es fühlte sich an, als wären es Hunderte gewesen. Nicht eine war erfolgreich. Im August 2009 folgte dann, fast erwartet, der Zusammenbruch. In ihrem Büro sackte Muriel Genda auf den weißen Fliesenboden, sie schlug die Hände über den Kopf, zog die Beine an und zitterte am ganzen Körper. Dieses Mal riss sie sich nicht wieder zusammen, dieses Mal ging sie zur Ärztin, die schrieb sie wegen eines Burnout krank. Wenig später klagte sie. Vor kurzem hat das Arbeitsgericht in Guingamp Gendas Chef verurteilt, er muss ihr etwa 250 000 Euro zahlen, für über 5200 Überstunden und entgangene Ruhetage. Er hat Berufung eingelegt, aber sollte er scheitern, wäre das wohl die höchste Gehaltsnachzahlung, die eine McDonald’s-Filiale in Frankreich jemals zahlen musste. Muriel Genda ist nun bekannt in Frankreich, Interviews gibt sie unter ihrem Mädchennamen, sie versucht, die Kontrolle über ihr neues Leben zu behalten. Heute arbeitet sie in einem Modegeschäft und leitet ein Team mit 15 Angestellten. Sie versucht, eine gute Chefin zu sein. Und halbwegs pünktlich nach Hause zu gehen. [© DER SPIEGEL, 08/2012]
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„Fast jeder kann foltern“
Der österreichische Jurist Manfred Nowak, 61, über Haftbedingungen
SPIEGEL: Als Uno-Sonderberichterstatter für Folter haben Sie die Haftbedingungen in 18 Ländern untersucht, von Nigeria bis in die USA. In wie vielen Ländern wurde gefoltert?
Nowak: In 17 von 18. In den meisten Staaten gehören für Polizisten Schläge und Tritte zum Alltag, auch das kann Folter sein.
SPIEGEL: Wo ist es am schlimmsten?
Nowak: In Äquatorialguinea habe ich systematische Folter festgestellt. In der Hauptstadt Malabo haben uns Häftlinge erzählt, wie sie mit an Batterien angeschlossenen Kabeln gefoltert wurden. Ich habe diese Apparate gesehen, aber die Sicherheitskräfte haben alles abgestritten.
SPIEGEL: Ein extremer Einzelfall?
Nowak: Leider nein. Meine Kollegen und ich haben Schreckliches gehört, Menschen werden gefesselt, an Stangen aufgehängt, mit Verbrennungen bedroht. Seit dem Mittelalter haben sich die Methoden für körperliche Folter nicht geändert. Sie heißen nur anders.
SPIEGEL: In dem Buch, das Sie über Ihre Reisen geschrieben haben, berichten Sie auch von psychischer Folter.
Nowak: Die Desorientierung aller Sinne ist ein Mittel, man stülpt jemandem eine Kapuze über. In Guantanamo haben die USA Gefangene extremen Temperaturen ausgesetzt. Der damalige US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld ordnete auch an, Phobien zu nutzen. War jemand klaustrophobisch, wurde er in einen engen Käfig gesperrt.
SPIEGEL: Sie trafen auch Folterer. Was sind das für Menschen?
Nowak: In Extremsituationen kann fast jeder foltern. Oft wird mit Angst gearbeitet, wie in den USA nach dem 11. September. Den Beamten wurde gesagt: Ihr müsst uns vor Terroristen schützen, deshalb sind alle Mittel, auch nicht legale, recht.
SPIEGEL: Nur in Dänemark fanden Sie keine Hinweise auf Folter. Was ist dort besser?
Nowak: Dort gibt es das „Prinzip der Normalität“. Gefängnisse werden so offen wie möglich gestaltet, Häftlinge gelten als Kunden. Ein Folterer würde sofort denunziert werden. Die Konsequenz ist, dass in Dänemark die Rückfallquote der Haftentlassenen besonders niedrig ist.
Manfred Nowak: „Folter. Die Alltäglichkeit des Unfassbaren“. Verlag Kremayr & Scheriau, Wien; 240 Seiten; 22 Euro.
[© DER SPIEGEL, 08/2012]
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„Ich denke jeden Tag an die Tat“
Die Schweizerin Nicole Dill, 42, über Vertrauen und Vergebung
SPIEGEL: 2007 wurden Sie von Ihrem damaligen Lebensgefährten elf Stunden lang gefoltert, vergewaltigt und beinahe mit einer Armbrust getötet. Inzwischen haben Sie einen neuen Partner und sind Mutter eines Sohnes. Wie haben Sie wieder Vertrauen gefasst?
Dill: Zuerst wollte ich keine Männer an mich heranlassen. Musste ein Arzt einen Verband wechseln, war das schon ein großer Schritt. Ich musste alles neu lernen, sogar das Atmen. Beide Lungen waren ja angeschossen. Durch viele kleine Schritte habe ich wieder ins Leben gefunden. Aber es gibt immer wieder Momente, in denen die Angst hochkommt, Dunkelheit zum Beispiel oder enge Räume, er hatte mich ja in den Kofferraum gesperrt. Oder ein Mann, der dasselbe Parfum benutzt wie er.
SPIEGEL: Was hilft Ihnen?
Dill: Ich fahre mit meinen Inlineskates Marathons. Während dieser 42 Kilometer muss ich mich immer wieder selbst coachen, um nicht aufzugeben. Das hilft mir auch im Alltag. Ich sage mir dann: Du bist im Hier und Jetzt. Roland hat sich kurz nach seiner Inhaftierung umgebracht. Er kann mir nichts mehr tun.
SPIEGEL: Ihr Lebensgefährte war ein verurteilter Mörder und Vergewaltiger, der vorzeitig entlassen worden war, was Sie nicht wussten. War ihm nichts anzumerken?
Dill: Ich hätte nie für möglich gehalten, dass er ein Mörder ist. Roland war sympathisch und charmant, er hat mir häufig Schokoladenherzen geschenkt. Aber dann änderte er sich. Wenn ich Freundinnen traf, wollte er mit. Er sagte: „Wenn du nichts zu verbergen hast, nimmst du mich mit.“ Er folgte mir bis ins Büro. Ich war sein Besitz, konnte keinen Schritt ohne ihn gehen.
SPIEGEL: Worauf achten Sie heute, wenn Sie Menschen kennenlernen?
Dill: Ich beobachte die Person haargenau, wie sie sich äußert, wie sie sich bewegt. Ich bin zuerst sehr distanziert, und ich verlasse mich auf mein Bauchgefühl: Fühle ich mich wohl in der Gesellschaft dieses Menschen oder nicht? In meinen jetzigen Mann habe ich mich erst spät verliebt, zuerst waren wir nur gute Freunde. In unserer ersten gemeinsamen Nacht konnte ich vor Angst nicht schlafen.
SPIEGEL: Können Sie Ihrem Peiniger vergeben?
Dill: Das ist bei einer so schweren Tat nicht möglich. Aber es hilft, wenn man wieder im Alltag verankert ist. Ich habe mich für den Weg nach vorn entschieden. Ich habe mich nie gefragt, warum ich das erlebt habe. Für mich war wichtig, warum ich es überlebt habe. Aber ich denke jeden Tag an die Tat.
Nicole Dill: „Leben! Wie ich ermordet wurde“. Rowohlt Verlag, Reinbek; 208 Seiten; 8,99 Euro.
[© DER SPIEGEL, 05/2012]
Heute unterstützt Nicole Dill Opfer häuslicher Gewalt und bietet mit der Website „Sprungtuch“ eine erste Anlaufstelle für sie in der Schweiz an.
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„Operierte Brüste bringen nichts“
Die Autorin Sara Schätzl, 24, über den Weg zum roten Teppich und gefährliche Implantate
SPIEGEL: Sie träumten von einer Karriere als Glamourgirl, auf Ihrem Weg dorthin haben Sie sich die Brüste vergrößern lassen – mit den gefährlichen PIP-Implantaten. Wie geht es Ihnen?
Schätzl: Als ich davon erfahren habe, dass die Implantate reißen können, habe ich erst mal drei Tage durchgeheult. Die Strapazen, die Schmerzen, und dann erfährst du, dass alles umsonst war und dein Körper in Gefahr ist. Ich ärgere mich über die laxen Kontrollen. Der TÜV kontrolliert ein Auto stärker als die Sachen, die sie in einen Körper einsetzen.
SPIEGEL: Haben Ihnen die großen Brüste bei Ihrer Karriere geholfen?
Schätzl: Operierte Brüste bringen dir gar nichts. Natürlich hilft gutes Aussehen. Aber man kann sich nicht nur darauf verlassen. Ich habe damals die Schule geschmissen und bin auf nach München. Und dann saß ich in meiner Sozialwohnung und habe in meiner Verzweiflung im Branchenbuch geblättert und Filmproduktionen angerufen. Die meisten haben aufgelegt. Schließlich bin ich einfach zu einer hingefahren und habe den Chef abgefangen. So bekam ich meine erste Rolle.
SPIEGEL: Einigen Frauen aus dem Showbusiness gelingt es, nur durch ihren Körper ins Rampenlicht zu kommen. Frauen wie Micaela Schäfer.
Schätzl: Ja, aber die ist im Dschungelcamp, was ist denn das für eine Karriere? Ich habe auch noch nie einen Filmproduzenten kennengelernt, der gesagt hat: Na ja, mit größeren Hupen hätte ich dich schon genommen.
SPIEGEL: In Ihrem Buch beschreiben Sie Ihren Weg zum „Glamourgirl“. Was raten Sie jemandem, der ins Showbusiness will?
Schätzl: Erstens: Sei schlauer als die anderen. Auf die ersten VIP-Partys habe ich mich geschlichen, weil ich die Kellner kannte. Zweitens: Sei fleißig. Wichtig ist Weiterbildung, Schauspielunterricht. Du musst gucken, dass du in diesem Geschäft die beste Version von dir selbst bist.
SPIEGEL: Bereuen Sie Ihre Brust-OP?
Schätzl: Die OP an sich nicht. Das war alles gut überlegt. Aber jetzt bin ich schwanger und kann mir die Implantate nicht herausnehmen lassen. Wir wollen das Kind keiner Vollnarkose aussetzen. Außerdem könnte ich dann nicht stillen. Aber später lasse ich sie rausnehmen.
Sara Schätzl: „Glamourgirl“. Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin; 240 Seiten; 14,95 Euro.
[© DER SPIEGEL, 03/2012]
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„Comics sind sehr effizient“
Der kanadische Künstler Guy Delisle, 45, über gezeichnete Konflikte
SPIEGEL: Sie sind im August 2008 mit Ihrer Familie nach Jerusalem gezogen und haben über Ihre Erlebnisse einen Comic verfasst. Eignet sich ein Leben in Israel für lustige Zeichnungen?
Delisle: Mir ging es nicht darum, politische Konflikte zu beschreiben oder Schlüsse zu ziehen. Ich habe einfach meinen Alltag beobachtet und mich mit den Leuten unterhalten, die mir begegnet sind. Ich zeige dem Leser mein Leben, mehr nicht.
SPIEGEL: Ihre Frau arbeitete bei „Ärzte ohne Grenzen“ im Westjordanland und im Gaza-Streifen. Die Familie lebte im Osten Jerusalems, dem arabischen Teil. Wie sah Ihr Alltag aus?
Delisle: Ost-Jerusalem ist sehr heruntergekommen und schmutzig. Einige Straßen sind nicht asphaltiert. Es gibt ein paar Cafés, aber die meisten sind leer. Es sieht dort eher wie in einem Dritte-Welt-Land aus. Meine Frau musste immer einen Checkpoint passieren, um zur Arbeit zu kommen.
SPIEGEL: In Ihrem Comic „Chroniques de Jérusalem“ sind auch die Sperranlagen zu sehen, die Israel vom Westjordanland trennen.
Delisle: Diesen Schutzzaun hat man im Osten Jerusalems jederzeit vor Augen. Ich bin viel mit dem Auto herumgefahren. Die Mauer schlängelt sich um ganze Dörfer, sogar um Häuser. Ich habe viele Skizzen von der Mauer gemacht. Das war auch grafisch faszinierend.
SPIEGEL: Ende 2008 startete Israel eine Luftoffensive auf den Gaza-Streifen. Wie haben Sie die Angriffe erlebt?
Delisle: Wir waren ganz in der Nähe, der Gaza-Streifen war nur eineinhalb Autostunden entfernt, trotzdem haben wir das gemacht, was alle anderen auch taten: Wir haben al-Dschasira geguckt. Für die Menschen in Gaza war die Situation beklemmend: Niemand durfte das Gebiet verlassen.
SPIEGEL: Der Nahost-Konflikt ist ja schwere Kost. Trotzdem ist Ihr Buch in Frankreich ein Erfolg. Sind Comics die besseren Lehrbücher?
Delisle: Comics sind sehr effizient, wenn man Dinge erklären will. Man hat die Zeichnung, den Text oder auch eine Grafik. Ich kann auf einer halben Seite erklären, was der Tempelberg ist. Außerdem habe ich die Möglichkeit, humorvoll zu schreiben. Und Spaß dabei haben, wenn man etwas über Jerusalem liest, das geht ja mit einer Zeitung eher selten.
Guy Delisle: „Chroniques de Jérusalem“. Éditions Delcourt, Paris; 336 Seiten; 25,50 Euro. Ab März auch auf Deutsch erhältlich.
[© DER SPIEGEL, 03/2012]