Eine saubere Sache

EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE: Warum eine Inderin wegen einer Toilette ihre Ehe aufs Spiel setzte Anita Narre, 24 Jahre alt, frisch verheiratet, hatte nicht vor, eine Revolution zu starten. Sie plante auch nicht, zum Vorbild für andere Frauen zu werden. Anita Narre wollte einfach nur ein eigenes Klo. Ihre Geschichte beginnt in Chichouli, einer Kleinstadt im Zentrum Indiens. Hier lebte sie, zusammen mit ihren Eltern. Ihr Vater ist Lehrer, ihre Mutter Hausfrau. Die Familie schätzt Traditionen, die Eltern gaben ihrer Tochter den guten, alten indischen Namen Anita, die Gnadenvolle, sie sind neuen Ideen, neuen Moden gegenüber nicht sonderlich aufgeschlossen. Die Eltern suchten den Ehemann für ihre Tochter aus, ohne zu fragen, ob ihr der Mann gefällt. Die Eltern teilten ihrem Kind nur das Ergebnis mit, und Anita war eine gute Tochter, sie nahm die Entscheidung einfach hin, so erzählt sie es selbst. Die Wahl der Eltern fiel auf einen jungen Mann, er heißt Shivram, ist zwei Jahre jünger als Anita, und er würde demnächst als Grundschullehrer arbeiten, in seinem Dorf Jheetudhhana, nicht weit von Chichouli entfernt. Anita Narre traf ihren zukünftigen Ehemann nur ein einziges Mal vor der Hochzeit. Danach hatte sie das Gefühl, dass ihre Eltern eine gute Wahl getroffen hatten. Shivram, so schien es ihr, war ein ehrlicher, warmherziger Mann. Ihr neues Zuhause sah Anita erst nach der Hochzeit. Und was sie sah, ließ sie zweifeln, an der Urteilskraft ihrer Eltern und am Fortbestand ihrer Ehe. Bis zum Zeitpunkt ihres Umzugs hatte sie in einem richtigen Haus gelebt, mit Wänden aus Stein, mit einem ordentlichen Dach, mit Strom und mit einer Toilette. Das war nun nicht mehr so. Das Haus ihres Mannes war kein richtiges Haus, es war eher eine Hütte, es gab drei Zimmer, aber keinen Strom, und das Wasser holte man aus einem Brunnen, der ungefähr einen Kilometer weit entfernt war. Mit diesen Unannehmlichkeiten hätte sich Anita Narre zur Not noch arrangieren können. Was sie nicht ertrug, war die Abwesenheit einer Toilette. Es fehlte nicht nur ein Klo in der Nähe der Hütte. Es gab gar kein Klo im Dorf. Ein offenes Feld diente den Dorfbewohnern als Latrine, die eine Hälfte war für die Männer reserviert, die andere für die Frauen. Anita fragte ihren Mann, ob man den Zustand ändern könne. Seine Antwort war: Eine Toilette im Haus ist eklig, außerdem teuer. Anita Narre versuchte, eine gute Ehefrau zu sein. Sie riss sich zusammen. Am Abend, nachdem es dunkel geworden war, machte sie sich auf den Weg zum offenen Feld. Sie wollte dort von niemandem gesehen werden, nicht von Männern, nicht von Frauen. Sie lief auf Flip-Flops, gab acht, dass sie nicht auf Skorpione oder Schlangen trat. Am Morgen darauf, bevor die Sonne aufging, suchte sie das Feld zum zweiten Mal auf, und dabei beschloss sie, dass es auch das letzte Mal sein würde. So hatte sie sich ihr Leben nicht vorgestellt. Sie stellte ihrem Mann ein Ultimatum. Sie werde jetzt wieder zu ihren Eltern ziehen, sagte sie, und erst, wenn das Haus eine eigene Toilette habe, werde sie zurückkehren. Kein Klo, keine Ehe. Die Versuche des Ehemanns Shivram, sie umzustimmen, blieben ohne Ergebnis. Anita Narre ging, er begann, ein Klo zu planen. Er würde es nicht in der Hütte bauen, sondern in einem Verschlag, ein paar Meter entfernt. Es würde etwa 4000 Rupien kosten, was viel Geld ist, wenn man wie Shivram 2400 Rupien im Monat verdient. Um den Bau bezahlen zu können, wandte er sich an die Dorfverwaltung, die ihm einen Zuschuss über 2000 Rupien gewährte. Das Geld stammt aus einem Hygieneprogramm der indischen Regierung. Etwa eine Woche später war alles fertig, hinter dem Haus stand nun ein Ziegelhäuschen mit Metalltür und Toilettenschüssel im Boden. Anita kehrte zu ihrem Mann zurück. Das hätte, soweit es Shivram und Anita betrifft, das Ende der Geschichte sein können. Aber so war es nicht. Die anderen Frauen im Dorf fragten sich nun, warum sie sich weiterhin auf den Acker hocken sollten. Wieso hatten sie nicht auch ihre eigene Toilette? Überall im Dorf debattierten Ehefrauen nun mit ihren Ehemännern, und manche droh-ten, wie Anita gedroht hatte: kein Klo, keine Ehe. Heute, ein knappes Jahr später, gibt es rund hundert Toiletten im Dorf, und vergangene Woche wurde Anita Narre für ihre Hartnäckigkeit geehrt. Eine gemeinnützige Organisation hat ihr einen Preis verliehen und umgerechnet über 7000 Euro geschenkt. Anita und Shivram Narre wollen das Geld in ihr Zuhause investieren. Ein größeres Haus soll nun gebaut werden, mit einem eigenen Badezimmer. (© DER SPIEGEL, 13/2012)



Über

Kathrin Klette, Jahrgang 1978, Nordlicht. Studium der Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft und Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin und der Ludwig-Maximilians-Universität München. Arbeit als freie Journalistin, längere Aufenthalte in London. Volontariat an der Evangelischen Journalistenschule in Berlin mit Stationen bei der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, beim rbb Kulturradio, bei „Welt Online“, „Der Spiegel“ und beim ZDF (New York). Seit 2013 Redakteurin bei der „Neuen Zürcher Zeitung“, Autorin des Buches „Hoffen – Eine Anleitung zur Zuversicht“, erschienen im Ch. Links Verlag.

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