„Viele haben verlernt, auf ihre innere Stimme zu hören“

Was soll ich im Restaurant essen, welchen Bewerber soll ich einstellen, muss ich Angst vor der Vogelgrippe haben? Das heutige Leben ist voller Gefahren und Herausforderungen. Gerd Gigerenzer, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, erklärt, wie man sich richtig entscheidet. Ein Gespräch über Gefahren im Krankenhaus, unterschätzte Risiken im Alltag und wie man die Liebe fürs Leben findet. [© evangelisch.de vom 05. April 2013, Link]

Herr Gigerenzer, angenommen, ich habe ein interessantes Job-Angebot in einer fremden Stadt. In meinem jetzigen Beruf dagegen läuft es mäßig, aber ich fühle mich wohl. Was soll ich tun?

Gerd Gigerenzer: Nach der klassischen Entscheidungstheorie sammeln Sie zuerst viele Informationen und listen alle Argumente für beide Orte auf. Dann gewichten Sie jeden Aspekt mit einer Zahl: Ist Ihnen eine hohe Lebensqualität wichtig, bekommt sie eine fünf. Ist Ihnen Geld ziemlich egal, bekommt es eine eins. Dann schätzen Sie, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, mit der jeder Aspekt eintrifft. Im nächsten Schritt multiplizieren Sie die Wahrscheinlichkeiten mit den Gewichten und addieren alles. Schließlich entscheiden Sie sich für den Ort mit dem größten erwarteten Nutzen.

Hört sich kompliziert an.

Gigerenzer: So handeln tatsächlich auch nur wenige Menschen. Letztlich gibt oft ein einziger Grund den Ausschlag: der Wunsch nach beruflicher Weiterentwicklung, zum Beispiel, oder Neugierde auf eine neue Herausforderung.

In Ihrem Buch schreiben Sie, wir lebten in einer „risikoinkompetenten Gesellschaft“. Was meinen Sie damit?

Gigerenzer: Seit den letzten 50 Jahren sind wir in Deutschland so sicher wie nie zuvor. Wir leben länger, sind gesünder. Trotzdem haben wir viele große Ängste: vor Vogelgrippe, Schweinegrippe, BSE, Terrorismus. Zwar sind an der Schweinegrippe Menschen gestorben, aber wenige im Vergleich zu den Todesfällen durch die normale Grippe. Die wirklichen Gefahren gehen völlig unter.

Welche sind das?

Gigerenzer: Zum Beispiel Rauchen, Motorrad fahren, aber auch Auto fahren. An den Folgen des Rauchens sterben in Deutschland jedes Jahr etwa hunderttausend Menschen. Jeder dritte Krebs entsteht durch Zigaretten. Hier hat man also das Leben wirklich selbst in der Hand. Das betrifft auch andere Risikofaktoren wie Übergewicht, zuckerhaltige Softdrinks, Bewegungsmangel und Alkoholmissbrauch. Der Ertrag durch Krebs-Früherkennung und der Krebsmedikamente ist dagegen gering, mit wenigen Ausnahmen wie dem Hodenkrebs.

Wie kann man lernen, Risiken realistisch einzuschätzen?

Gigerenzer: Das muss schon in der Schule anfangen. Kinder und Jugendliche sollten mehr Statistik und Psychologie lernen. Schließlich geht es auch darum, sich selbst besser zu verstehen: Warum habe ich Angst? Warum möchte ich so aussehen wie alle anderen? Noch immer finden es manche Jugendliche cool, zu rauchen oder betrunken zu sein. Deshalb sollten schon Kinder spielerisch lernen, wie Werbung verführt. Wir müssen sie stark machen gegen äußere Einflüsse. Diese Wertevermittlung kann auch eine Aufgabe der Kirche sein.

Oft sagen Menschen ja, sie hätten sich aus dem Bauch heraus für etwas entschieden. Können Gefühle ein gutes Leitsystem sein?

Gigerenzer: Unbedingt. Was Sie beschreiben, ist Intuition, eine Form unbewusster Intelligenz, die auf Erfahrung beruht. Ein Fußball-Spieler kann auch nicht erklären, wie er ein Tor geschossen hat. Er macht es einfach. Intuition ist Wissen, das nicht in Sprache ausgedrückt werden kann. Oft fallen intuitive Entscheidungen schnell. Das Problem ist, dass viele verlernt haben, auf ihre innere Stimme zu hören.

Wie kommt das?

Gigerenzer: Intuition wird oft verwechselt mit Willkür oder göttlicher Eingebung. Deshalb wird sie in bestimmten Bereichen unserer Gesellschaft tabuisiert, vor allem unter Top-Managern, die sich vor ihren Vorgesetzten und Shareholdern verantworten müssen. Manager treffen zwar viele Entscheidungen intuitiv, suchen aber oft später Gründe, damit sie scheinbar rational wirken.

Wie kann ich üben, wieder mehr auf meine innere Stimme zu hören?

Gigerenzer: Vor Ihrer Entscheidung über Ihren künftigen Job könnten Sie eine Münze werfen. Während sie sich in der Luft dreht, spüren Sie vielleicht schon, welche Seite nicht oben liegen soll. Dann brauchen Sie gar nicht mehr auf das Ergebnis zu schauen.

Geht es nicht zuerst ein bisschen einfacher, bitte?

Gigerenzer: Na gut, nehmen wir ein Restaurant. Manche Menschen versuchen auch dort, ihr Ergebnis zu maximieren, sie wollen das Beste. Also lesen sie die gesamte Speisekarte, wägen alles ab. Ich habe dagegen eine einfache Regel, mit der ich bisher immer zufrieden war. Ich frage den Ober, was er essen würde, und nehme das. Schließlich ist er derjenige, der weiß, was in der Küche los ist. Ich frage ihn nicht, was er empfiehlt, sonst fängt er an nachzudenken.

Ich soll also meine Entscheidung einem Fremden überlassen?

Gigerenzer: Tatsächlich fällt es vielen Menschen schwer, die Speisekarte nicht zu lesen, denn dann müssten sie vertrauen. Das ist aber die Mutter aller Faustregeln. Man muss nur wissen, wem man vertrauen kann.

Woher weiß ich das?

Gigerenzer: Man muss verstehen, in welcher Situation der andere ist. Viele Deutsche haben immer geglaubt, dass ihr Bankberater nur das Beste für sie will. Dabei weisen ihm seine Vorgesetzten an, welche Versicherungen und andere Produkte er verkaufen soll. Viele Bankberater wollen also das Beste für die Bank, nicht notwendigerweise für Sie – sonst wären sie nicht lange Bankberater.

Aber auf Ärzte kann ich mich doch verlassen?

Gigerenzer: Auch Ärzte haben oft Interessenkonflikte. Sie verdienen etwa an sogenannten IGeL-Leistungen, von denen man nicht unbedingt weiß, ob sie nützen oder sogar schaden. Viele Ärzte haben auch nicht gelernt, wissenschaftliche Forschung zu verstehen. Konzerne können daher leicht eine Statistik so darstellen, dass ein Arzt eine Behandlung empfiehlt – oder eben nicht. Wenn es um Gesundheit oder Geld geht, sollte man selbst mitdenken.

Kann die Religion ein guter Ratgeber sein?

Gigerenzer: In solchen Konflikten kann der Glaube tatsächlich ein Korrektiv sein. Ein religiös motivierter Arzt orientiert sich stärker am Wohl des Kranken. Und ein ängstlicher Patient kann durch den Glauben gelassener werden.

In der Liebe geht es weder um Statistik, noch um rationale Argumente. Wie finde ich den richtigen Partner fürs Leben?

Gigerenzer: Auch hier meinen einige Forscher, Heiratswillige müssten erst eine große Anzahl möglicher Partner testen, bevor sie sich für den richtigen entscheiden könnten. Die Idee dahinter ist: Mehr ist immer besser. Das Problem ist nur, dass man in einem kurzen Menschenleben diesen in jeder Hinsicht idealen Partner wohl kaum finden kann. Und selbst wenn man ihn gefunden hätte, würde man es ja nicht mit Sicherheit wissen. Manche Männer folgen stattdessen einer einfachen Regel: Sie versuchen, die Frau zu bekommen, die ihre Freunde haben wollen.

Gute Freunde können nicht irren?

Gigerenzer: Freunde können sich irren, aber wenn man gemeinsam irrt, hält die Illusion länger an. Der Partner ist ja auch kein Auto, das gut oder schlecht ist. Eine Beziehung lebt von der Interaktion, das bedeutet, dass die andere Person auch zu dem wird, wie ich mich zu ihr verhalte. Ich sollte mich also auch fragen, was mir die andere Person geben kann, und was ich ihr geben kann.

Vor was muss ich wirklich Angst haben?

Gigerenzer: Ich würde mich am meisten davor fürchten, ein Leben zu führen, das ich nicht selbst bestimme. Und dazu muss man Risiken eingehen. Wer keine Risiken eingeht, kann auch nicht gewinnen. Nichts ist so schlimm, wie im Alter zu merken: Das Leben ist vorbei, und ich habe mich nicht getraut.

Gerd Gigerenzer: „Risiko – Wie man die richtigen Entscheidungen trifft“. C. Bertelsmann Verlag München; 400 Seiten; 19,90 Euro.



Über

Kathrin Klette, Jahrgang 1978, Nordlicht. Studium der Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft und Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin und der Ludwig-Maximilians-Universität München. Arbeit als freie Journalistin, längere Aufenthalte in London. Volontariat an der Evangelischen Journalistenschule in Berlin mit Stationen bei der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, beim rbb Kulturradio, bei „Welt Online“, „Der Spiegel“ und beim ZDF (New York). Seit 2013 Redakteurin bei der „Neuen Zürcher Zeitung“, Autorin des Buches „Hoffen – Eine Anleitung zur Zuversicht“, erschienen im Ch. Links Verlag.

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